Thor (Teil 4) - Unheilstifter
Unheilstifter
***Prolog***
Loki erwachte in seinem Bett und sein rechter Arm lag um eine nackte Freya, die schräg auf seinem ebenso nackten Oberkörper lag. Seine Bettdecke war bis zu ihren Hüften nach unten gerutscht. Er richtete seinen Kopf gerade soweit auf, dass er sehen konnte, wie sie noch immer schlief.
Er ließ seinen Kopf wieder in das Kissen sinken und ein leichtes Schmunzeln umspielte seine Lippen. Freya Idunstochter, seine Cousine, lag nackt in seinem Bett. Sie hatten die letzte Nacht zusammen verbracht. Obwohl es genau das war, was er sich immer gewünscht hatte, fuhr sich Loki mit seiner linken Hand über die Stirn und seine Augen.
Wie konnte das geschehen?
Er kniff sich in seinen Nasenrücken und presste die Augen fest zusammen. Dann ließ er seine Hand wieder sinken und richtete seinen Blick auf seine Zimmerdecke.
Wann hatte er das erste Mal bemerkt, dass er tiefe Gefühle für seine Cousine hegte? Vor dem ersten Kuss? Danach?
Loki runzelte die Stirn und versuchte sich an das erste Mal zu erinnern, als er dachte: dieses Mädchen oder keine.
Die Erinnerung kam ebenso schnell wieder auf, als wäre es erst gestern geschehen und Loki konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.
***
Er hatte sich schon immer zu ihr hingezogen gefühlt, aber bis er 12 Jahre alt war, hatte er immer angenommen, dass es an etwas anderem lag.
Er war das mittlere Kind gewesen. Sein Bruder Thor, der zwei Jahre älter als er war und ihre Cousine Freya, die zwei Jahre jünger als er war, waren alle drei zusammen im Palast aufgewachsen. Natürlich war das Leben im Palast an der Seite von zwei älteren Cousins sehr aufregend und abenteuerlich gewesen und ebenso natürlich war es, dass immer Loki auf die jüngere Cousine achtgeben musste.
Während Thor und seine besten Freunde Volstagg und Fandral zusammen ins Abenteuer stürzten, kam Freya mit ihren kleinen Beinen meist nicht hinterher. Obwohl Loki seinem älteren Bruder nacheifern und nicht zurückbleiben wollte, war es am Ende immer seine Aufgabe, Freya an die Hand zu nehmen und hinter den anderen dreien herzutrotten.
So war es seitdem Freya laufen gelernt hatte.
Da er dies über viele Jahre hinweg tun musste, hatte sich eine gewisse Zuneigung zu seiner Cousine entwickelt. Die auf Gegenseitigkeit beruhte.
Nachts, wenn Freya Albträume oder Angst vor Gewitter hatte, war sie daher nicht zu Thor ins Bett gekuschelt, sondern zu Loki. Wenn Freya sich irgendwo verletzt hatte, ging sie zuerst zu Loki, der sie nicht auslachte wie alle anderen. Wenn sie traurig war, dann war Loki derjenige, der sie wieder zum Lachen bringen konnte.
Als Freya etwa vier Jahre alt war und Loki sechs wurde, stellte sich heraus, dass er nicht nur magisch begabt war, sondern auch ein ungemeines Talent für das Streiche spielen hatte. Von da ab war im Palast kaum mehr jemand sicher vor Loki. Außer Freya.
Thor hatte dies, obwohl er eher der langsamere von den beiden Prinzen war, sofort bemerkt und begonnen Loki damit aufzuziehen. Und genau da packte er Loki bei seinem Stolz und seinem Drang niemals schwächer als Thor zu sein. Wenn jeder wusste, dass er Freya verschonte, war er angreifbar. Das war der Zeitpunkt als auch Freya in seine Streiche eingebaut wurde und nun wirklich niemand mehr vor ihm sicher war.
Als Loki acht Jahre alt war, hatte er Freya zum ersten Mal küssen wollen. Um diesen Wunsch zu erreichen, hatte er einen ausgeklügelten Plan ausgearbeitet, damit er es erreichte und gleichzeitig niemand sonst davon erfuhr. Er erpresste Freya das erste Mal.
Er erfüllte ihr einen Herzenswunsch (die sagenumwobene Halskette Brisingamen) und dafür sollte sie ihm einen Wunsch erfüllen. Schließlich verzögerte sich der zweite Teil seines Plans, da er für den Diebstahl von Brisingamen für ein Jahr den Schmieden aus Schwarzalbenheim zur Hand gehen sollte. Rein technisch gesehen, küsste Loki Freya mit neun Jahren.
Die Sache mit dem Kuss war für längere Zeit genug für ihn gewesen.
Es war eine Erfahrung die er gemacht hatte und die er, auch wenn es ihm gefallen hatte, nicht so schnell wiederholen wollte. Dazu war er viel zu sehr damit beschäftigt im Umgang mit der Magie besser zu werden und sein Ziel zu erreichen: Gott des Unheils zu werden.
Dieses Ziel erreichte er schließlich mit zehn Jahren, ebenso wie Thor vor ihm zum Gott des Donners ernannt wurde. Danach war Loki erst einmal einige Zeit damit beschäftigt besser im Kampf und der Kriegsführung zu werden. Thor hatte ihm da leider wieder einiges voraus.
Als Freya zehn Jahre alt wurde, wurde sie nicht zu irgendeiner Göttin ernannt.
Dies war nicht ungewöhnlich.
Zum Gott einer bestimmten Sache ernannt zu werden, erforderte viele Jahre Tätigkeit in eben dieser Sache und eines gewissen Rufs.
Thor war schon von klein auf aufbrausend gewesen und als er den mächtigen Hammer Mjölnir aus der Waffenkammer stahl, konnte er sogar sofort einige Blitze heraufbeschwören. Dies wurde zwar von seinem Vater und Allvater aller neun Reiche bestraft, trotzdem war ganz Asgard auf den älteren der beiden Prinzen stolz gewesen.
Loki dagegen war in seinem Handwerk Streiche zu spielen, Unfrieden zu stiften und Unheil über den Palast zu bringen so gut, dass es auch bei ihm reichte um Gott des Unheils zu werden. Seine Fähigkeiten wurden jedoch von Asgard nicht mit so viel Stolz betrachtet.
Freya, als jüngste der Königskinder (ihr Vater We Borrson war der ältere Bruder und Mitregent von Odin), hatte keine spezielle Fähigkeit entwickelt, außer niedlich und höflich zu sein. Etwas das viele andere Kinder auch waren. Es reichte nicht aus, um sie zu irgendetwas bestimmten zu ernennen. Daher gab sie sich das Ziel eine große Kriegerin zu werden, so wie es ihr verstorbener, älterer Bruder Freyr einer war und Thor es bald sein würde.
Für Freya begann daher der anstrengende Spagat zwischen höfischem Unterricht und Kampftraining. Den anstrengendsten Höhepunkt erreichte sie mit zehneinhalb Jahren.
***Kapitel 1***
Es war später Vormittag und es dauerte nicht mehr lange bis es Mittagessen gab. Freya hatte seit dem Frühstück Unterricht. Zuerst waren Tischmanieren auf dem Unterrichtsplan, dann Benehmen im Beisein eines Botschafters, dann Musizieren und schließlich nähen bei ihrer Tante Frigga.
Ihre Tante hatte mit einem Kopfschütteln aufgegeben, als Freya sich das sechste Mal in den Zeigefinger gestochen hatte. „Also gut Kind, wir beenden den Unterricht für heute“, hatte ihre Tante mit einem warmen lächeln gesagt und ihre Stickereien beiseitegelegt. Freya hatte aufgeatmet, ihre Näharbeiten in einem Korb verstaut, ihrer Tante zu geknickst und schließlich so schnell es das Protokoll erlaubte, das Nähzimmer verlassen.
Kaum war sie auf dem Korridor angelangt und die Türen hinter ihr ins Schloss gefallen, raffte sie ihr Kleid und spurtete zu ihrem Zimmer.
Dort riss sie sich das Blumenband aus ihrem Haar und entledigte sich so schnell sie konnte ihres Kleides. Wenn sie sich mit anziehen beeilte, konnte sie noch zum Kampftraining und etwas üben bevor es Mittagessen gab.
Sie hatte sich eine enganliegende Hose aus hellbraunem Leder anfertigen lassen, sowie ein paar schwarze Stiefel, die sie bis zu ihren Knien schnüren musste. Als Oberteil diente ihr eine einfache, graue Bluse und darüber eine schwarze, Lederkorsage.
Glücklicherweise musste sie die Korsage nicht schnüren sondern konnte sie mit kleinen, versteckten Haken und Ösen zumachen. Für ihre Haare nahm sie sich ein silbernes Band und band sich ihre Haare einfach zu einem Pferdeschanz nach hinten. So stürmte sie wie der Wirbelwind aus dem Zimmer und durch den Palast nach unten zu den Übungsplätzen.
„Jetzt stell dich doch nicht so an!“, hörte Freya Thor am lautesten rufen. Sie beschleunigte ihren Schritt um zu sehen um was es ging, als sie hörte wie Fandral rief: „Das ist ja erbärmlich!“ und Volstagg laut lachte.
Freya schlitterte um eine Mauer und kam in Sichtweite des Trainingsfeldes.
Der Kampftrainer der Prinzen (und seit neuestem auch von der Prinzessin), hatte einen Parcours aufgebaut. Zuerst sollte der Trainierende über eine Mauer klettern, dann sich über einen Sumpf hangeln, anschließend ein Netz hochklettern, von oben aus auf eine andere Seite schwingen, auf der anderen Seite an einer Sange herunterrutschen, danach durch ein steiniges Feld unter einigen Drähten durchrobben und auf der anderen Seite über einen kleinen See springen.
Loki hing kraftlos über dem Sumpf an den Hangelbalken und schien einfach nicht mehr vorwärts zu kommen. Am Rand des Parcours standen Thor, Fandral und Volstagg und machten sich über Loki lustig. Thor und Fandral waren über und über mit Matsch bedeckt, Volstagg war nur bis zu den Knien nass, was bedeutete, dass sie den Parcours bereits durchlaufen hatten. Hinter ihnen stand Kampftrainer Tiu und brüllte gerade: „Keiner hört mit dem durchlaufen des Parcours auf, bevor er nicht matschig oder mindestens nass ist!“
„Und ich werde alles dafür tun nicht schmutzig zu werden!“, presste Loki mit hochrotem Kopf zwischen seinen Zähnen hervor. „Und wenn ich hier ewig hänge!“
„Vorher kommt Ihr aber nicht von hier weg mein Prinz“, lachte Trainer Tiu.
Freya verstand das Konzept und ergriff ihre Chance.
Sie spurtete los und kletterte mit Leichtigkeit über die Mauer. Allerdings kletterte sie nicht auf der anderen Seite wieder runter sondern stellte sich oben aufrecht hin und sprang mit einem kräftigen Satz auf das Hangelgestell. Dort angekommen, balancierte sie über die Holzbalken und den darunter liegenden Sumpf hinweg.
Loki, der noch immer dort hing, sah Freya nicht kommen aber als das Gestell unter ihrem Gewicht wackelte, verrenkte er seinen Kopf um nachzusehen was geschehen war. Ihm viel der Mund auf, als er Freya über sich entdeckte.
Sie grinste und ging über ihm in die Hocke um besser mit ihm reden zu können und das Gleichgewicht besser zu halten.
„Du brauchst mir zu lange. Du hast doch nichts dagegen wenn ich den Parcours jetzt durchlaufe, während du da hängst? Es gibt bald Mittagessen und danach habe ich wieder Unterricht“, erklärte sie mit ihrer glockenreinen Stimme und ihre Augen strahlten vor Vorfreude.
Loki versuchte sich zusammen zu reisen und wollte etwas erwidern, als Freya sich bereits wieder aufgerichtet hatte und weiterbalancierte. Über ihre Schulter warf sie ihm noch zu: „Entschuldige, aber ich habe keine Zeit zu verlieren. Lass dich nicht hängen!“
Am Rand des Parcours lachten die drei jungen Krieger laut auf und auch der Trainer schmunzelte.
Loki schloss seinen Mund und presste seine Lippen fest aufeinander während er ihr dabei zusah, wie sie am Rand des Hangelgestells angelangt kam und mit einem Salto heruntersprang.
So agil war er vor 20 Runden auch noch gewesen…
***Kapitel 2***
Der Kampftrainer Tiu hatte ihnen allen heute erklärt was sie machen sollten. Nämlich den Parcours so lange durchlaufen, bis der erste in den Sumpf fiel oder unter dem Schwingseil in den Matsch plumpste. Thor war der erste von ihnen gewesen und hielt es doch tatsächlich 17 Runden lang aus, bis seine Hände so schwitzten, dass er am Seil abrutschte und in den Matsch fiel. Bei Fandral war das ähnlich, allerdings hielt er nur neun Runden durch, dann verließ ihn seine Kraft am Seil. Volstagg war der einzige, der nach dem zweiten Durchgang so Kraftlos war, dass er beim Hangeln den Halt verlor und im Sumpf bis zu den Knien versank.
Loki hatte sich bei dem Specktakel köstlich amüsiert und keine Sekunde ausgelassen sich über seinen Bruder und seine Freunde lustig zu machen. Schließlich waren sie so missgestimmt über den Scherzenden, dass Thor stichelte: „Du dürrer Hänfling wirst keine fünf Runden durchstehen. Das da draußen ist anstrengender als du denkst!“
Sein kleiner Bruder war sofort darauf eingegangen: „Wette angenommen!“
Thor blinzelte verwirrt. „Wette?“
Loki deutete auf den Parcours und erklärte: „Du sagst ich stehe keine fünf Runden durch. Was wenn ich aber mehr durchstehe als du? Was bekomme ich dafür?“
Fandral verschränkte seine Arme und beugte sich zu Loki. „Einte Tracht Prügel?“ Thor hob seine Hand und legte sie beruhigend auf Fandrals Schulter. „Ruhig, ruhig mein Freund“, lenkte er ein und fügte mit nachdenklichem Blick zu Loki hinzu: „Was du dafür bekommst…“ Sein Blick fiel auf die Wurfmesser unter Lokis Umhang und er lächelte breit. „Dafür darfst du Mjölnir einen Monat haben.“
Mit einem schnauben wehrte Loki ab. „Guter versuch Bruder, aber wir beide wissen genau, dass ich ihn nicht eine Sekunde anheben kann. Ich will etwas anderes.“ Thors lächeln gefror. „Woher weißt du, dass du Mjölnir nicht heben…“, er stockte und dachte nach.
„Wie wäre es mit deinem Nachttisch? Einen Monat lang bekomme ich alle deine Süßigkeiten“, schlug Loki vor und streckte abwartend seine Hand aus.
Thor dämmerte endlich, warum Loki wusste, dass er Mjölnir nicht heben konnte. „Du kleiner Dieb… du wolltest ihn klauen, habe ich recht?“, stellte er fest und sah seinen Bruder drohend an. Loki ließ seine Hand nicht sinken aber während er mit seiner Schulter zuckte, machte sich ein hinterlistiges grinsen breit. „Ein Versuch war es wert“, meinte der jüngere.
„Was ist jetzt mit dem Nachtisch?“, fragte er noch einmal.
Thor seufzte und schlug dann aber ein. „Die Wette verlierst du!“
Loki zuckte wieder mit der Schulter und ging zum Anfang des Parcours. „Wart es ab“, meinte er nur und rannte los.
Ähnlich wie Freya, war Loki mit Leichtigkeit über die Mauer gesprungen, allerdings hatte er sich ordentlich über den Sumpf gehangelt. Er durchmachte den Parcours mit Leichtigkeit und mindestens so grazil wie Freya es später tat. Nicht nur das, er machte sich sogar noch lustig über seine Vorgänger. Indem er Blödsinn beim Hangeln machte oder so tat als würde er am Seil abrutschen. Jedes Mal wenn er vom Rand erfreutes Geschrei hörte, weil sie dachten er würde im Matsch landen, fing er sich und lachte sie aus.
Irgendwann war es Thor und seinen Freunden zu blöd und sie versuchten Loki mit Buhrufen und Schmähungen abzulenken. Doch diesen störte das herzlich wenig.
Schließlich bemerkte auch Loki mit wachsender Beunruhigung, dass ihn seine Blödeleien immer mehr Kraft kosteten und er noch weitere sieben Runden durchzustehen hatte, bis er 18 hatte und damit seinen Bruder übertraf.
Mit jeder Runde fühlte er, wie seine Arme länger zu werden schienen und sich schmerzen in seinen Muskeln meldeten. Er war eigentlich nicht dafür bekannt ein kräftiger und sportlicher Prinz zu sein. Seine Talente lagen mehr darin überlegt vorzugehen und Kraft zu sparen.
Sein Stolz verbot ihm jedoch aufzugeben und so biss er die Zähne zusammen und schaffte es sogar eine zwanzigste Runde zu beginnen. Obwohl er die Wette bereits gewonnen hatte, wollte er einfach nicht aufgeben und seine Kleidung dreckig machen. Das würde ihn auf dieselbe Stufe stellen wie Thor und seine Freunde.
***Kapitel 3***
So kam es, dass er kraftlos am Hangelbalken hing und keine Reserven mehr aufbringen konnte um weiterzumachen.
Um dem ganzen noch die Krone aufzusetzen, war Freya einfach über ihn dahinbalanciert und hatte sich vor den anderen über ihn lustig gemacht!
Obwohl er zugeben musste, dass sie sehr klug gewesen war, nicht einfach über den Sumpf zu hangeln sondern darüber hinweg zu gehen, war eine Erniedrigung von Freya vor allen anderen inakzeptabel.
Loki kniff die Augen vor Schmerz zusammen und murmelte leise ein paar Worte. Kaum hatte er sie beendet, spürte er wie die Magie wirkte und seine Muskeln nicht mehr schmerzten.
Er hatte diesen Zauber schon vor Jahren gelernt aber noch nie anwenden müssen. Er heilte einen nicht, allerdings nahm er einem das Gefühl für Schmerzen. Für ein paar Stunden zumindest. Danach würde alles vermutlich doppelt so schlimm werden, aber das war es wert. Loki riss sich zusammen, was nun viel leichter ging, wo er nicht mehr das Gefühl hatte schwer wie ein Stein zu sein und hangelte hinter Freya her.
Thor und seine Freunde hörten auf zu lachen und sahen Loki überrascht an. Sie waren sich sicher gewesen, dass er demnächst in den Sumpf fiel. „He! Du schummelst doch!“, rief Thor, der ahnte, dass sein kleiner Bruder Magie verwendet hatte. Loki war am Fuße des Netzes angekommen und kletterte behände nach oben, um Freya noch vor dem Seil zu erwischen.
„Beweis es mir!“, rief er seinem Bruder schelmisch zu.
Über ihm hatte Freya das Ende des Netzes erreicht und sah über ihre Schulter nach unten. Mit einem runzeln auf der Stirn fragte sie sich, warum Loki sich so beeilte und in ihr dämmerte langsam die Erkenntnis, dass er irgendetwas im Schilde führte. Sie ergriff das Seil und schwang auf die andere Seite hinüber.
Gerade rechtzeitig, denn Loki war gerade oben angelangt. „Ich krieg dich schon noch, keine Angst. Und dann wirst du bereuen dich über mich lustig gemacht zu haben!“, rief er ihr zur anderen Seite zu.
Sie wandte sich ihrem Cousin zu und grinste breit. „Da bin ich aber gespannt!“, rief sie zurück und verknotete das Seil auf ihrer Seite. Damit gab es für Loki keine Chance zu ihrer Seite zu kommen. Sie richtete sich wieder auf, streckte keck ihre Zunge raus und drehte sich zu der Stange um. Sie rutschte an ihr herunter und rannte weiter zum steinigen Boden, über den sie robben sollte.
Freya verschwendete keinen Blick mehr für Loki. Immerhin war es jetzt unmöglich geworden auf die andere Seite zu gelangen, ohne sich dreckig zu machen. Und wenn sie eines sicher wusste, dann war es das, dass Loki sich niemals freiwillig beschmutzte.
Auf der anderen Seite angelangt, nahm sie Anlauf und schaffte es gerade noch so über den kleinen See. Dann wandte sie sich um und rannte zurück zum Anfang des Parcours.
Sie hörte ihre Zuschauer freudig grölen und anfeuernde Rufe schreien, als sie an ihnen vorbeiflitzte. Es war etwas ganz besonderes von Thor angefeuert zu werden, denn immerhin war er ihr Vorbild. Freya lachte und nahm wieder mit Anlauf die Mauer und überquerte den Sumpf wieder oberhalb des Hangelgestells. Ohne weiter Zeit zu verlieren, sprang sie diesmal nicht auf den Boden sondern direkt ans Netz um nach oben zu klettern.
Noch nicht ganz oben angelangt, wurde plötzlich ihr Handgelenk gepackt und sie sah überrascht nach oben.
Loki stand über ihr und hatte wohl die ganze Zeit auf dieser Seite des Matschgrabens gewartet. Jetzt hielt er ihr Handgelenk und grinste spöttisch zu ihr herab. „Darf ich helfen?“, stichelte er und zog sie etwas unsanft über die Kante.
Freya verzog das Gesicht, sagte aber nichts. Das würde ihn vielleicht nur anspornen ihr Handgelenk noch fester zu packen. „So ein Mist“, meinte sie nur. Loki lachte auf. „Dachtest du wirklich, ich wate durch den Matsch um zur anderen Seite zu kommen, wenn ich hier einfach auf dich zu warten brauchte?“, fragte er noch immer breit grinsend. Freya biss die Zähne zusammen und sagte nichts.
Loki musterte Freya, wie sie ihren Blick auf den Boden gerichtet hatte und sich damit geschlagen gab. Einerseits vermisste er ihr lächeln und das strahlen in ihren Augen aber andererseits war es einfach berauschend sie in seiner Gewalt zu haben.
„Jetzt muss ich mir nur noch eine Strafe für deine Frechheit überlegen“, setzte Loki an und legte grüblerisch seine linke Hand an sein Kinn.
Da sah Freya auf und sagte schüchtern lächelnd: „Wer sagt, dass ich mich geschlagen gebe?“
Loki sah verdutzt in ihr Gesicht.
Bevor er irgendetwas unternehmen konnte, umarmte Freya ihn plötzlich.
Darüber war er so verdutzt, dass er ihr Handgelenk losließ und fast schon erschrocken zu ihr heruntersah. Er war versucht seine Arme um sie zu legen, doch ein schneller Blick zum Rand des Parcours ließ ihn zur Vernunft kommen. Sein Bruder und die beiden Freunde sahen überrascht zu ihnen hoch. Noch bevor er irgendetwas tun oder sagen konnte, spürte Loki jedoch, wie er das Gleichgewicht verlor.
Beziehungsweise wie Freya ihn mit sich riss.
Mit schrecken erkannte Loki, dass Freya ihn nur deswegen Umarmt hatte, um ihn mit sich in den Matsch unter ihnen mitzureisen.
„Mist“, war alles was er während des Falls noch von sich geben konnte, als ihm dämmerte dass seine Cousine ihn hereingelegt hatte. Trotzdem drehte er sich im Fallen soweit, dass er mit dem Rücken im Matsch landen würde und Freya dann nicht so viel abbekommen würde.
Gedacht, getan und schon spürte er, wie er in etwas weichem landete und eine dunkelbraune Brühe über sein Gesichtsfeld dahinschwappte. Dann umfing ihn Dunkelheit.
***Kapitel 4***
Freya lag auf Loki und der Matsch hatte sie so gut wie gar nicht erwischt. Irgendwie hatte er es geschafft sich im Flug so zu drehen, dass sie nicht seitlich aufkamen, sondern er auf dem Rücken landete. Sie war sich nicht sicher ob er das geplant hatte, immerhin war er jetzt von Schlamm überzogen, trotzdem war sie froh darüber.
„Alles in Ordnung?“, fragte Volstagg, als er, Fandral und Thor vom Rand hergerannt kamen um nachzusehen ob die beiden den Sturz unbeschadet überstanden hatten.
Freya richtete sich auf und strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr und lächelte. „Bei mir schon“, erklärte sie und wollte sich aufsetzen. Aber unter ihr war Loki etwas schneller. Er tauchte aus dem Matsch auf und stieß Freya von sich herunter.
Sie kicherte dabei und gewann so schnell sie konnte Distanz zu ihm. Zwar waren ihre schönen Stiefel völlig ruiniert und auch ihre Hose hatte das meiste abbekommen, aber nichts war so schlimm, dass der Anblick eines schlammüberzogenen Loki nicht wieder in Ordnung brachte.
Dasselbe mussten wohl auch ihre Freunde gedacht haben, denn sie prusteten los.
Loki saß im Matsch und rieb sich den Dreck aus den Augen um wieder klares Sichtfeld zu bekommen. „Na warte… das wirst du noch Büsen…“, grummelte er und sah auf seine Hände hinab. Es hatte keinen Sinn den Dreck aus seinen Augen zu entfernen, wenn seine Hände so verschmutzt waren. Daher richtete er sich auf und wollte aus der Matschgrube waten.
„Lehmloki“, kicherte Fandral und sofort brachen alle wieder in Gelächter aus.
Loki verzog gehässig das Gesicht. „Wie erwachsen…“, grummelte er und versuchte Haltung zu wahren, obwohl er immer wieder im Schlick auszurutschen drohte. Freya war bereits draußen angekommen und hatte es um einiges leichter als er, da sie die dargebotene Hand von Fandral annahm.
Nicht dass Loki eine helfende Hand angenommen hätte, aber ihm wurde erst gar keine angeboten. Nicht einmal von Thor. Vermutlich die Rache für die verlorene Wette.
„Hervorragend Freya, wirklich ausgezeichnet!“, lobte Thor seine Cousine überschwänglich und strich sich eine Lachträne aus seinem Augenwinkel. Volstagg nickte und pflichtete dem Prinzen bei: „Ja wirklich, das war mutig!“
Schüchtern richtete Freya ihren Blick auf den Boden. „Danke“, murmelte sie und fühlte wie ihre Wangen rot wurden. Es war wirklich ein schönes Gefühl von den Jungen gelobt zu werden, wo sie doch schon viel länger am Kampftraining teilnahmen als sie.
Inzwischen war auch Loki aus dem Schlamm herausgeklettert und stand auf der Gegenüberliegenden Seite. „Wie mutig sich einfach fallen zu lassen“, höhnte er von dort und versuchte seine Kleidung vom Matsch zu befreien.
„Sei kein Spielverderber Loki, Freya hat dich besiegt und damit ist alles gut. Du hast deine Wette gewonnen, was willst du mehr?“, fragte Thor seinen kleinen Bruder und unterdrückte mit aller Macht einen weiteren lach Anfall. Der Angesprochene richtete sich auf. „Wenn ihr mich entschuldigt? Es gibt bald Mittagessen und ich brauche ein Bad“, erklärte er würdevoll und verneigte sich etwas. Dann schritt Loki so aufrecht und selbstbewusst davon wie er konnte.
„Wenn wir ihn jetzt in einen Ofen stecken würden, hätten wir einen Golehmloki“, flüsterte Fandral seinen Freunden zu und alle, Freya eingeschlossen, brachen erneut in lautes Gelächter aus.
„Das ist gemein Fandral“, brachte Freya heraus und versuchte sich wieder zu beruhigen. „Aber wahr“, setzte der blonde Junge dazu und zwinkerte sie an. Freya lächelte schüchtern und sah Loki nach. „Glaubt ihr, er hat sich irgendetwas getan?“, fragte sie bang.
Thor schüttelte den Kopf und legte einen Arm um sie, während er begann in Richtung Palast zurück zu gehen. „Ach was, dem geht es gut. So stolz wie er davonmarschiert ist? Wahrscheinlich hat er nicht einmal etwas gespürt. Er hat mit Sicherheit irgendeinen Zauber gewirkt“, erklärte er schmunzelnd.
Plötzlich ertönte neben den beiden ein tiefes, grummelndes Geräusch. Thor und Freya sahen nach rechts, wo Volstagg stand. Dieser lächelte entschuldigend und hob seinen Bauch. „Tut mir leid. Es ist Mittagszeit und ich habe Hunger“, erklärte er. „Wenn ihr mich entschuldigen würdet? Meine Mutter wartet mit dem Essen bereits auf mich“, fügte er hinzu und verließ die Gruppe zusammen mit Fandral Richtung Stadt.
„Ich habe auch Kohldampf“, meinte Thor und ließ seinen Arm von Freyas schultern sinken um seinen Schritt zu beschleunigen. Freya musste fast schon neben ihm herrennen als sie ihn tadelte: „So etwas sagt man nicht. Du musst sagen: Ich habe Hunger und werde nun zum Mittagessen schreiten.“ Thor lachte. „So was sagen nur Mädchen“, dröhnte er mit lauter Stimme und schubste Freya liebevoll etwas bei Seite. Sie strauchelte, fing sich aber gleich wieder. „Blödmann…“, nuschelte sie und Thor drehte ruckartig den Kopf zu ihr herum. „Das darfst du nicht sagen. Du musst mich einen hochwohlgeborenen, nicht so klugen, jungen Mann nennen wenn du mich beleidigen willst“, äffte er sie nach.
Freya streckte ihre Zunge aus und sprang sofort los.
Thor wollte sie packen und dafür bestrafen (vermutlich mit kitzeln), aber sie wich elegant seinem Arm aus und rannte zum Palast davon.
„Wir sehen uns beim Essen Blödmann!“, rief sie lachend und ihre goldenen Locken wehten hinter ihr im Wind.
***Kapitel 5***
Beim Essen kam Loki viel zu spät.
Obwohl er kurz mit einem strengen Blick von seinem Vater gerügt wurde, sagte er nichts weiter dazu. Thor und Freya schmunzelten schweigend vor sich hin und irgendwie schien es, als ob auch seine Mutter leicht lächelte.
Natürlich hatte sein Bruder von der peinlichen Sache mit dem Matsch erzählt und mit Sicherheit war Freya wieder wegen ihres Mutes gelobt worden.
Loki setzte einen genervten Blick auf und ließ sich auf der Längsseite des Tisches, neben Freya nieder. Ihm gegenüber saß Thor, auf der rechten Kopfseite saß ihr Vater Odin und auf der linken Kopfseite saß ihre Mutter Frigga.
„War das Bad angenehm?“, fragte Thor mit einem diebischen Grinsen im Gesicht und schob sich ein riesiges Stück Steak in den Mund. Loki belud sich den Teller mit einem kleineren Stück Steak und jeder Menge Erbsen.
„Es war vorzüglich, danke der Nachfrage“, erklärte er hoheitsvoll.
„Ich wünschte nur, du hättest dir wenigstens ein Kleid angezogen Freya“, erklärte die Königin und wischte sich ihren Mund mit einem Stofftuch ab. „Deine Schlammüberzogenen Stiefel riechen sehr unangenehm.“
Freya senkte ihren Blick. „Entschuldige Tante“, sagte sie kleinlaut und stocherte in ihrem Teller herum. Es waren einfach zu viele Erbsen darin.
„Hauptsache du bist ordentlich gekleidet für deinen Unterricht heute Nachmittag“, meinte ihre Tante und lächelte sie an. „Du hast heute wieder Unterricht bei Meister Mikijal.“
Freya sah erfreut auf. „Wirklich? Wie schön!“
Thor horchte auf.
„Wer ist Meister Mikijal?“, fragte er mit vollem Mund. Seine Mutter bedachte ihn mit einem unduldsamen Blick, als eine Erbse aus Thors Mund fiel.
„Frag nicht so doof. Dieser Meister ist nur wieder irgendeiner dieser Manieren-Lehrer von Freya“, erklärte Loki diesmal nicht so gewandt wie sonst und deutete dabei noch mit seiner Gabel zu seiner Cousine neben ihm.
„Loki!“, warnte sein Vater einsilbig und legte dabei all seine Elterliche Macht in seine Stimme. Loki zog den Kopf ein und lächelte um Entschuldigung heischend.
„Frag nicht so unklug?“, bot er mit einem schelmischen grinsen seine Korrektur an und ein amüsiertes funkeln in den Augen seines Vaters zeigte ihm, dass er ihm vergeben hatte.
Dann wandte er sich wieder seinem Teller zu.
„Ihr habt keine Ahnung“, erklärte Freya und richtete sich ordentlich auf.
„Vermutlich“, meinte Loki und stürzte sich plötzlich und ohne Vorwarnung auf ihren Teller um ihre Erbsen herauszuklauben. „Hey!“, schrie sie auf und versuchte mit ihrer Gabel seinen Löffel von ihren Erbsen fern zu halten.
Überrascht sah er kurz auf und meinte: „Du magst doch keine Erbsen.“
„Aber vielleicht mag ich sie jetzt?“, fragte Freya und pikte ihrem Cousin mit ihrer Gabel in seine bleiche Hand.
Loki verzog schmerzhaft das Gesicht und zog seine Hand wieder aus ihrem Teller zurück. Dann sahen er, sowie alle anderen Anwesenden am Tisch überrascht dabei zu, wie Freya alle ihre Erbsen so hastig wie möglich herunterschlang. Als sie fertig war, sah sie ihre Tante an und fragte mit vollem Mund: „Darf if aufftehen?“
Ihre Tante wollte tadelnd etwas sagen und öffnete ihren Mund, als Freya von ihrem Stuhl aufsprang und beim Davonrennen rief: „Dante!“
Frigga schüttelte unwillig den Kopf. „Was ist nur los mit euch Kindern?“, fragte sie rhetorisch und Thor versuchte eine Erklärung: „Wir sind noch jung?“
Frigga sah ihren Sohn mit aufgerissenen Augen an. Hatte er sie gerade als alt bezeichnet?
Loki grinste leicht und versuchte die Situation zu retten: „Wir sind in der Pubertät.“
***Kapitel 6***
Loki hatte, unter dem verwunderten Blick seiner Eltern, den Nachtisch von Thor gegessen. Da Freya nicht bis zum Nachtisch geblieben war, hatte er auch ihren verputzt.
Allerdings schmeckte ihm das Eis nicht so gut, wie es eigentlich sollte. Das lag vor allem an Thors süffisantem grinsen als er bereitwillig seinen Nachtisch zu seinem kleinen Bruder geschoben hatte. Loki war sich sicher gewesen, ein kleines „Lehmloki“ gehört zu haben, als er den Nachtisch vollends zu sich herzog.
Nachdem er und sein Bruder den Speisesaal verlassen hatten, spürte Loki wie langsam der Schmerzzauber von ihm abfiel.
„Wo steckst du das alles nur hin?“, fragte Thor gerade als die Türen hinter ihnen geschlossen wurden.
Jeder einzelne Knochen und Muskelstrang in Lokis Körper meldete sich lautstark zurück und auch seine Hand, in die Freya mit ihrer Gabel gepickt hatte, tat ganz schön weh. Daher hatte er Thor nicht richtig zugehört und richtete nur fragend den Blick auf ihn.
Dieser deutete auf seinen Bauch und erklärte: „Das Eis. Die Süßigkeiten überhaupt. Soviel wie du immer verdrückst, müsstest du doppelt so breit sein wie Volstagg!“
„Ach das“, meinte Loki leichthin und fühlte sich jedoch gerade wie ein Stein. Er war bereits so verkrampft, dass er Mühe hatte einen Fuß vor den anderen zu setzen. „Kopfarbeit“, erklärte er nur und nahm sich vor so schnell wie möglich zur Heilerin zu gelangen.
Thor blieb bei der Antwort stehen und dachte nach. Loki tat es ihm nicht gleich sondern ging, so schnell er konnte, weiter.
„Was haben die Süßigkeiten mit Kopfarbeit zu tun?“, rief ihm Thor fragend hinterher und Loki konnte ein Grinsen nicht verkneifen.
Bevor er um die nächste Ecke bog, rief er seinem älteren Bruder zurück: „Dauert zu lange um es dir zu erklären!“
Auch wenn Thor manchmal etwas langsam war, bedeutete das nicht, dass er nicht sofort wusste wenn sich sein jüngerer Bruder über ihn lustig machte. In diesem Falle hörte Loki bereits kurz nach seinem Satz, wie Thor begann hinter ihm her zu rennen. Da Loki jedoch keine Kraft zum wegrennen, noch zum Abwehren hatte, machte er eine lässige Armbewegung mit seiner rechten Hand.
Mit einem donnern, polterte Thor um die besagte Ecke und hatte seine Faust mit einem funkeln erhoben. Doch sein funkeln erstarb und seine Faust ließ er überrascht sinken.
Weit und breit war kein Loki zu sehen.
„Mistkerl!“, rief Thor in den Korridor und wandte sich ab um nach draußen zu gehen.
Loki war einfach weitergelaufen, allerdings unsichtbar für so gut wie jeden, außer seinen Vater. Dieser konnte ihn komischerweise immer noch sehen, wie er bei einem seiner letzten Streiche herausgefunden hatte.
***Kapitel 7***
Freya genoss den Nachmittagsunterricht wie keinen anderen. Meister Mikijal war Tanzlehrer und obwohl Freya unbedingt das Kämpfen lernen wollte, machte ihr das tanzen viel mehr Spaß als alles andere. Doch so schön er auch war, auch dieser Unterricht ging vorbei.
Da es bereits spät geworden war, zog sich Freya in die Bibliothek zurück um ein Buch zu lesen. Sie war so guter Stimmung, dass sie durch die Bücherreihen tanzte und mit ihrem Zeigefinger ab und zu an den Buchrücken entlangstreifte.
Sie hatte heute einen neuen Tanz gelernt. Es war eigentlich ein Gruppentanz aber die Schrittfolge war sehr schön und so tanzte sie sich durch die Bibliothek. Auf der Suche nach einem Buch über heroische Krieger bahnte sie sich so ihren Weg in den ersten Stock der zwei Stockwerke hohen Bibliothek. Die beiden oberen Stockwerke wurden nur durch ein metallenes Gitter vom Hauptraum getrennt, wodurch man von den oberen Stockwerken auf den untersten hinuntersehen konnte. Obwohl Freya gerne den Ausblick aus den riesigen Bibliotheksfenstern genoss, war sie dieses Mal viel zu sehr mit tanzen beschäftigt.
Schließlich blieb ihr Blick an einem fast zerschlissenen Buchrücken hängen. Der Titel des Buches hieß „Die Mahr des Mökkurkalfi“.
Freya runzelte die Stirn und entschied sich dieses Buch zu lesen. Kaum hatte sie es aus dem Regal gezogen und aufgeklappt, ertönte hinter ihr eine Stimme.
„Was liest du da?“
Freya erschrak so sehr, dass sie fast das Buch wegschmiss. Sie wandte sich um.
Loki saß in der Hocke auf dem Metallgitter und hielt sich mit seiner linken Hand daran fest, so als habe er sich von einem Stock darüber heruntergelassen. Hinter ihm waren die großen Fenster und so sah Freya vor der roten Abendsonne Asgards nur seinen Umriss. Aber sie war sich sicher, dass es Loki war.
„Du hast mich erschreckt!“, stellte Freya tadelnd fest.
Loki kletterte vom Gitter herunter.
„Dachtest du ich wäre ein Frostriese?“, machte er sich über sie lustig. Dann hielt er jedoch kurz inne und runzelte nachdenklich die Stirn. „Oder machst du etwas verbotenes?“
Freya blinzelte.
„Nein, ich…“, sie verstummte und kam sich dumm vor. Sie wusste, dass sie nichts Verbotenes tat, aber dass sie sich verteidigte, verstärkte nur seinen Verdacht. Loki kam auf sie zu und streckte seine Hand aus.
Bevor Freya reagieren konnte, hatte er das Buch ergriffen und den Titel laut vorgelesen. „‘Die Mahr des Mökkurkalfi‘, soso…“, meinte er und blätterte durch das Buch.
Freya ließ ihn gewähren und hoffte, dass es ihm bald langweilig würde und sie dann in Ruhe ließ. Dabei spielte sie gedankenverloren mit einer ihrer Haarsträhnen. Loki hatte inzwischen tatsächlich aufgehört das Buch durch zu blättern und sah sie über das geöffnete Buch in seiner Hand hinweg an.
Freya erstarrte mitten in ihrer Bewegung und wurde ins hier und jetzt zurückgeholt, als sie sein rechtes Auge zucken sah.
Er sah aus, als würde er wegen irgendetwas wütend werden…
„Was ist?“, fragte Freya vorsichtig und ließ ihre Haarsträhne los und ihre Hand sinken.
Er seufzte genervt und schloss nicht nur das Buch in seinen Händen sondern auch seine Augen. Als er es ihr in die Hand drückte, meinte er mit eisiger Stimme: „Ich muss mich noch bei dir revanchieren.“
Sie nahm das Buch und presste es gegen ihre Brust. „Wegen was denn?“, fragte sie bang und überlegte sich, was sie falsch gemacht hatte. Lokis Gesicht zierte ein leichtes lächeln und als er sich etwas zu ihr herunterbeugte, meinte er: „Das weißt du ganz genau.“
Mit einem Kopfschütteln, das ihre goldenen Locken tanzen ließ, erklärte Freya ehrlich, dass sie nicht wisse von was er da sprach.
„Hör auf damit!“, zischte Loki bissig und in seinem Kiefer zuckte ein Muskel.
So emotional hatte sie ihn noch nie erlebt, daher ging sie unwillkürlich einen Schritt von ihm weg. „Loki, was…?“, begann sie fragend, als Loki sie überrascht ansah, sich wieder gerade aufrichtete und entspannte.
„Hör auf die Dumme zu spielen. Du hast dich über mich lustig gemacht, mich in den Dreck gestürzt und damit vor Thor und seinen Freunden zum Gespött gemacht. Das schreit förmlich nach Rache!“, erklärte er nun etwas ruhiger und wandte sich auch sofort von ihr ab. „Erwarte kein Erbarmen.“
In Freya stieg Panik auf. Bisher hatte er seine Missetaten nie angekündigt und normalerweise stellte er irgendetwas an, weil ihm Langweilig war und nicht weil er gekränkt wurde. In Fakt war die Sache heute das erste Mal, dass über ihn gelacht worden war, solange Freya überhaupt denken konnte. Sie fühlte sich elend und konnte einfach kein Wort hervorbringen. Sie wollte ihn anflehen nicht anzustellen was ihr schadete oder sie traurig machte, aber ihr war die Kehle zugeschnürt.
Ihr Cousin schien kurz auf ihr bitten und betteln gewartet zu haben, aber da sie nichts herausbrachte, ging er einfach davon und verließ schließlich auch die Bibliothek und ließ Freya alleine mit ihren Befürchtungen und bösen Vorahnungen.
***Kapitel 8***
Nachdem Loki die Heilerin aufgesucht hatte und von dieser wieder zusammengeflickt worden war, hatte er sich sofort in die Bibliothek begeben.
Die Heilerin musste drei angebrochene Rippen, einen verknacksten Knöchel und unzählige Prellungen und blaue Flecke heilen. Wenn Loki von Thor verhauen worden wäre, hätte er mit Sicherheit die Rippen vollends gebrochen und damit vielleicht eine seiner Lungen perforiert. Loki wollte sich nicht ausmalen wie schmerzhaft das erst für ihn geworden wäre.
Auch wenn die Heilerin alles geheilt hatte, was in seinem Körper nicht in Ordnung war, konnte sie nichts daran ändern, dass jeder einzelne Muskel schmerzte. Allein seine Oberarme brannten als würden Millionen winziger Nadeln darin stecken und machten sich bei jeder Bewegung schmerzhaft bemerkbar.
In der Bibliothek hatte er sich vor einem der großen Fenster in eines der weichen Sofas geworfen und nahm sich fest vor sich nicht mehr zu bewegen. Mit seinen magischen Fähigkeiten ließ er die Bücher, die er lesen wollte und nicht zu weit außer Reichweite standen, zu sich herschweben.
Irgendwo musste es Heilzauber geben, die ihm in der Zukunft hilfreich sein könnten.
So verbrachte er den ganzen Nachmittag und wurde erst aus seinen Studien herausgerissen, als die Bibliothekstüre geöffnet und wieder geschlossen wurde. Er musste nicht überlegen wer hereingekommen war. Es gab im ganzen Palast nur zwei Personen, die regelmäßig die Bibliothek besuchten. Der eine war er selbst, und die andere war…
Loki hatte sich erhoben und an einem der Regale entlanggespäht.
Freya tanzte an den Buchreihen entlang.
Sie hatte ein bodenlanges, plüschärmeliges, eierschalenweißes Kleid an, das am Saum mit grünen Blumenranken bestickt war. Um Ihre Hüfte lag eine goldene Borte, die mit einem grünen Stein zusammengehalten wurde und um ihren Hals lag die funkelnde Kette Brisingamen. Ihre Haare waren offen und ein paar Strähnen wurden am Hinterkopf mit einer kleinen grünen Spange zusammengehalten.
Völlig in ihrer eigenen Musik eingelullt, bemerkte sie seine Anwesenheit in keiner einzigen Sekunde und tanzte mit einem glücklichen Lächeln in den ersten Stock der Bibliothek. Immer mit Blick auf die Buchrücken.
Loki folgte ihr mit blicken und überlegte ob er ihr folgen sollte und sie ansprechen. Aber was wollte er sagen? Er dachte darüber nach, was er sagen könnte, als er feststellte, dass ihm die Worte fehlten wenn er sie sah.
Wie sie lächelte, sich bewegte, ihre Locken im Abendlicht glitzerten, ihre Augen strahlten und ihr Kleid um ihre Beine flog.
Schließlich schloss er die Augen und schüttelte seinen Kopf.
Verdammt! Er wurde auch Loki Silberzunge genannt, weil er immer den passenden Satz auf Lager hatte und jetzt fehlten ihm die Worte? Wegen einer zehnjährigen?
Obwohl er sich vorgenommen hatte, sich nicht mehr zu bewegen, kletterte er am Regal, neben dem er gerade noch gestanden hatte, nach oben. Oben angelangt, war er auf derselben Höhe wie Freya im ersten Stock der Bibliothek. Flink balancierte er auf dem Regal zum Metallgitter entlang, zu seiner Cousine hin. Doch das Regal endete einen halben Meter vor dem Metallgitter, daher nahm er noch einmal Anlauf und sprang…
…und landete mit einem gedämpften Geräusch auf dem Metallgitter. Loki ruderte mit den Armen um nicht nach hinten zurückzufallen, als er sich gleichzeitig fragte warum Freya ihn nicht gehört hatte. Doch schließlich fand er seine Balance wieder und er ging hastig in die Hocke um sich mit seiner Linken am Gitter festzuhalten.
„Was liest du da?“
Freya zuckte so heftig zusammen, dass sie beinahe das Buch in ihren Händen weggeworfen hätte, welches sie gerade aus dem Regal vor ihr gezogen hatte. Als sie sich zu ihm umdrehte, wurde sie von der roten Abendsonne hinter Loki angestrahlt und ihm blieb fast die Luft weg. Ihre Haare sahen aus, als würden sie glitzern und ihre rosigen Wangen und Lippen waren wurden nur umso mehr hervorgehoben.
„Du hast mich erschreckt!“, erklärte sie mit einem Schmollmund, der ihn unbeabsichtigt schmunzeln lies. Geschmeidig kletterte Loki vom Gitter herunter und witzelte: „Dachtest du, ich wäre ein Frostriese?“ Im selben Moment kam ihm ein anderer Gedanke. War sie erschrocken zusammengefahren weil er sie bei etwas gestört hatte? Bei etwas verbotenem oder etwas intimem? „Oder machst du etwas verbotenes?“, fragte er daher mit einem Stirnrunzeln und fragte sich, was für ein Buch sie ausgewählt hatte.
Langsam ging er auf sie zu und sie runzelte die Stirn. „Nein, ich…“, wollte sie beginnen sich zu verteidigen, aber sie stockte und schloss wieder ihren kleinen, vollen Mund. Das gab ihm die Möglichkeit, ihr das Buch aus ihren Händen zu nehmen und den Titel zu untersuchen. „‘Die Mahr des Mökkurkalfi‘, soso…“, murmelte er nachdenklich und blätterte dabei durch das Buch.
Er überlegte ob er das Buch jemals gelesen hatte und las hier und da den einen oder anderen Satz. Schließlich erkannte Loki, dass er das Buch weder gelesen hatte, noch irgendeine schmutzige Geschichte enthielt.
Loki sah auf und wollte etwas sagen, als er Freya an einer ihrer Haarsträhnen spielen sah.
Sie hatte nicht bemerkt, dass er sie beobachtete sondern schien träumerisch in die Ferne zu sehen. Immer wieder drehte sie dabei die blonde Locke um ihren Zeigefinger, zog ihren Finger wieder daraus hervor und begann wieder von vorne.
In seinem Magen begann es zu rumoren, als ob sich hunderte kleine Würmer gleichzeitig zu regen schienen. Es kitzelte so, als würde er plötzlich fallen und gleichzeitig breitete sich eine wärme in seiner Brust aus, die er so noch nie zuvor gespürt hatte. Mit einem Zucken in seinem rechten Auge stellte er fest, dass seine Hände begannen zu schwitzen.
„Was ist?“, fragte ihn Freya plötzlich und hörte mit einem Stirnrunzeln auf mit ihrer Strähne zu spielen.
Mist, sie hatte ihn dabei erwischt, wie er sie angestarrt hatte. Seufzend schloss er seine Augen um seine Gedanken wieder zu sortieren und eine passende Antwort zu finden. In seinen Händen klappte er das Buch zu, damit seine Finger etwas zu tun hatten.
„Ich muss mich noch bei dir revanchieren“, stellte er trocken fest, während er ihr wieder mit geöffneten Augen das Buch in ihre Hand drückte.
Freya riss ihre grünen Augen auf und presste haltsuchend das Buch gegen ihre mädchenhaft, flache Brust. „Wegen was denn?“, fragte sie ihn fast schon ängstlich und Loki genoss das Gefühl der macht, dass spürte. Er konnte nicht anders als zu lächeln und beugte sich zu ihr herunter. „Das weißt du ganz genau.“
Mit einem heftigen Kopfschütteln flogen ihre Locken um ihren Kopf und durch die Abendsonne glitzerten sie bezaubernd. Während Loki nur mit halbem Ohr zuhörte wie sie ihm erklärte, dass sie keine Ahnung hatte von was er sprach, beobachtete er ihre Haare. Das Gefühl von eben meldete sich tausendfach gesteigert zurück und er dachte er würde gleich explodieren. Jeder Muskel meldete sich schmerzhaft wieder zurück, als er sich anspannte.
„Hör auf damit!“, presste er wütender hervor als er beabsichtigt hatte.
Er dachte er könnte den Anblick nicht länger ertragen, wenn sie nicht sofort aufhörte ihren Kopf zu bewegen. Doch mit seiner Reaktion erreichte er etwas völlig anderes als er eigentlich beabsichtigt hatte. Mit einem angsterfüllten Gesichtsausdruck ging seine kleine Cousine sogar einen Schritt von ihm weg.
„Loki, was…?“, fragte sie zitternd, als er versuchte sich zu entspannen und wieder aufzurichten. „Hör auf die Dumme zu spielen. Du hast dich über mich lustig gemacht, mich in den Dreck gestürzt und damit vor Thor und seinen Freunden zum Gespött gemacht. Das schreit förmlich nach Rache!“, erklärte er ihr etwas ruhiger und wandte sich von ihr ab. Sein Herz schmerzte bei dem angsterfüllten Ausdruck in ihrem Gesicht.
„Erwarte kein Erbarmen“, fügte er noch mit geschlossenen Augen zu und wartete darauf, dass sie irgendetwas sagte. Doch das tat sie nicht. Obwohl er wirklich wissen wollte, warum sie nicht mehr sprach, traute er sich nicht nachzusehen. Mit geballten Fäusten ging er davon und so schnell er konnte aus der Bibliothek.
Er musste etwas gegen diese Macht unternehmen, die sie ihm gegenüber ausüben konnte.
***Kapitel 9***
Freya hatte sich sofort in ihr Schlafzimmer zurückgezogen und mit angewinkelten Beinen auf dem Bett gesessen und versucht das Buch zu lesen. Doch ihr Blick wanderte immer wieder zu den großen Flügeltüren ihres Gemachs. Sie konnte die kleine Stimme in ihrem Kopf einfach nicht abschalten, die immer wieder flüsterte: „Loki wird sich an dir rächen.“
Jedes Mal, wenn sie ein Kribbeln in ihrem Nacken spürte, sah sie vom Buch auf. Und jedes Mal war niemand da. Niemand schlich sich durch die Türe oder war bereits in ihrem Zimmer. Trotzdem konnte sie nicht anders als aufzusehen.
Schließlich war sie gerade einmal zehn Seiten weit gekommen, als sie genervt das Buch zusammenschlug und es auf ihr Bett warf.
„Verdammt!“, rief sie erbost und verschränkte ihre Arme vor der Brust. „Wie soll ich mich konzentrieren können, wenn ich gleichzeitig Angst habe?“, fragte sie genervt die Leere in ihrem Schlafzimmer und erwartete keinerlei Antwort von ihr. Ein Blick aus den hohen Fenstern verriet, dass es bereits Nacht geworden war und die Sterne Yggdrasils hell am Firmament erstrahlten.
Es war den Prinzen und der Prinzessin verboten zu so später Stunde ihre Zimmer zu verlassen, ganz zu schweigen vom Palast.
Auch wenn Freya und ihre Cousins dieses Verbot schon zuvor gebrochen hatten und sogar ein paar Mal erwischt und von Allvater bestraft worden waren, konnte nichts und niemand die drei daran hindern es wieder und wieder zu brechen. Es war nachts einfach aufregend und so anders als bei Tage.
Freya schwang ihre Beine aus dem Bett und huschte zu den großen Flügeltüren um ihr Zimmer leise zu verlassen.
Im Korridor waren ein paar Lichter erhellt, aber nicht genug um die tiefen Schatten der Säulen zu vertreiben. Wenn sie mit ihren Cousins unterwegs war, huschten sie dann von Säulenschatten zu Säulenschatten, aber jetzt war sie alleine. Und obwohl sie eine große Kriegerin werden wollte, fürchtete sie sich vor den dunklen Schatten.
Sie hatte genug Geschichten gehört und gelesen um zu wissen was in der Dunkelheit alles lauern konnte.
Trotzdem beschloss sie das Risiko einzugehen.
Sie verließ den Schutz ihres hellerleuchteten Zimmers und huschte vom Rand des einen Schattens zum nächsten. Immer weit genug davon entfernt im Dunkeln zu sein und immer nahe genug, um sich zu verstecken wenn einer der Palastwachen den Korridor betrat.
Auf leisen Sohlen schlich Freya zu einem der zwei einzigen Orte an denen sie sich zu so später Stunde sicher fühlte.
Zaghaft klopfte sie an Thors Schlafzimmer. Leise genug, dass es keiner der Wachen hören konnte, der vielleicht in der Nähe war und laut genug, dass es Thor hören musste.
Und tatsächlich, seine schwere Türe wurde geöffnet.
Freyas Gesicht entspannte sich und dabei viel ihr erst auf wie angespannt sie während ihrer nächtlichen Wanderung eigentlich gewesen war.
„Thor, ich…“, Freya stockte mitten im Satz, als sie nicht in die blauen Augen ihres ältesten Cousins, sondern in die blaugrauen ihres, derzeit meistgefürchteten, Cousins Loki sah.
„Tut mir leid, ich bin nicht Thor. Aber vielleicht möchtest du reinkommen und mit ihm sprechen?“, fragte Loki mit einem amüsierten glitzern in seinen Augen als er Freya vor sich gewahr wurde. Freya rührte sich nicht, obwohl Loki einen schritt beiseite machte und ihr damit den Weg freimachte. Sofort schien er zu wissen, was sie überlegte, denn er meinte mit einem spöttischen grinsen: „Du bist schon beim richtigen Schlafzimmer. Thor und ich haben uns nur überlegt was wir heute Nacht gegen unsere Langeweile tun könnten. Kommst du endlich rein?“
Freya rührte sich immer noch nicht und überlegte angestrengt ob sie nicht einfach wieder umdrehen und ins Bett gehen sollte. Doch Loki hatte Langeweile und wenn er Thor nicht dazu brachte etwas mit ihm zu unternehmen, würde er sicher ihr einen Besuch abstatten. Sie hatte eigentlich vorgehabt Thor über Loki zu informieren und ihn zu bitten sie vor ihm zu beschützen. Wenigstens für diese eine Nacht. Aber wenn Loki auch hier war, konnte sie wohl schlecht hier bleiben.
Tief in ihren Gedanken versunken, riss Loki sie plötzlich gewaltsam daraus hervor, als er ihren Oberarm mit eisernem Griff packte, in Thors Zimmer zerrte und dort gegen die bereits geschlossene Zimmertüre presste. Freya wollte erschrocken losschreien und sich gegen ihn wehren, als er seine kühle Hand auf ihren Mund legte und mit seinem Gewicht jeden Wiederstand zum ersterben brachte.
Mit einem warnenden funkeln in seinen Augen legte er einen seiner langen Finger an seine Lippen und bedeutete ihr leise zu sein.
Ihre Augen angstgeweitet blieb sie leise und konnte durch die Türe hören, wie schwere Schritte auf dem Korridor entlanggingen. Das leise klirren einer Rüstung verriet, dass es eine der Palastwachen sein musste. Die Wache blieb nicht einmal stehen, sondern ging einfach am Zimmer vorbei und war schließlich nicht mehr zu hören. Erst dann ließ Loki seine Cousine gehen.
Kaum hatte er sich von ihr gelöst, stieß ihn Freya wütend bei Seite und stürmte in das Zimmer von Thor und damit so weit weg von Loki wie möglich.
„Mach das nie wieder!“, grummelte sie und wischte sich ihre schweißnassen Handflächen an ihrem Kleid ab.
„Entschuldige, dass ich dich und mich vor einer Strafe beschützt habe. Wird nicht mehr vorkommen“, zischte Loki unwirsch zurück.
„Was ist denn los?“, fragte da Thor und kam in seinem Schlafanzug aus dem angrenzenden Badezimmer.
„Freya?“, fragte er irritiert und sah seinen Bruder gespannt an.
„Ich konnte nicht schlafen“, erklärte Freya an Lokis statt.
„Er auch nicht“, meinte Thor mit einem Schulterzucken und einem Fingerzeig zu seinem Bruder, der noch immer hinter Freya an der Zimmertüre stand. „Ich dagegen bin müde und frage mich, warum ihr immer mich aufsucht wenn ihr beide nicht schlafen könnt“, erklärte Thor gähnend und machte keinerlei Anstalten eine Hand vor seinen Mund zu heben. Er wandte sich zu seinem Bett um und kletterte unter seine Bettdecke.
„Du bist mein großer Bruder“, erklärte Loki ernst aber mit einem amüsierten funkeln in seinen Augen. Er lehnte sich an die Türe hinter ihm und verschränkte dabei seine Hände vor seiner Brust. „Wohin sollte ich sonst gehen?“
Thor saß in seinem Bett und deutete auf Freya.
„Sie kann nicht schlafen, genau wie du. Stellt zusammen was an und last mich in Ruhe“, meinte er schläfrig und gähnte wieder herzhaft. „Na los, haut ab!“ Damit rutschte er unter seine Bettdecke und legte sich nieder.
Freya hatte nichts gesagt und wusste nicht, ob sie jetzt wirklich wieder in ihr Zimmer gehen sollte oder einfach hier stehen blieb. Loki hinter ihr schien die Hoffnung aufgegeben zu haben und öffnete sachte die Türe wieder.
„Komm schon Freya“, hörte sie die leise Stimme von Loki hinter sich.
Mit einem tiefen Seufzer wandte sie sich von Thor ab, der bereits gleichmäßig atmete. Sie verließ Thors Zimmer, ging an Loki vorbei und hoch erhobenen Hauptes in Richtung ihrer eigenen Kammer davon. Dieser sah ihr nur nach, verschloss die Zimmertüre seines Bruders und schlich einen Raum weiter in sein eigenes.
***Kapitel 10***
Freya erwachte am nächsten Morgen und ihr wurde kein Streich gespielt. Auch an den folgenden Tagen geschah nichts und langsam wuchs in ihr die Hoffnung, dass Loki bereits die Kränkung vergessen hatte.
Natürlich kicherte Fandral noch immer das eine oder andere Mal wenn er Loki sah und auch Thor konnte sich beim Essen nicht zurückhalten und die alten Geschichten auftauen, aber Loki nahm das alles mit gelassener Mine hin. So als wäre es jemand anderem passiert und nicht ihm.
Irgendwann wurde es Thor zu blöd und er ging zu anderen Geschichten über und auch Fandral musste nicht mehr kichern.
Das alles war ein gutes Zeichen für Freya und sie schlief nachts wieder beruhigt ein.
Es war ein wunderschöner Morgen und das schönste von allem war: sie hatte keinen Unterricht! Dieser Tag war allein zu ihrer eigenen Verfügung und Freya sehnte sich danach über die Felder zu reiten oder mal wieder etwas mit ihren Cousins zu unternehmen.
Die Sonne kitzelte sie an der Nase und sofort schlug sie die Augen auf. Mit einem breiten und unverhohlenen Gähnen richtete sie sich aufrecht auf und streckte sich.
In dem Moment betraten ihre beiden Kammerzofen den Raum.
Sie lächelten in ihre Richtung und wollten die Prinzessin begrüßen, als ihr Lächeln im Gesicht erfror. Doch nicht nur das, sie blieben auch wie angewurzelt stehen.
Freya zog ihre Arme wieder zurück und runzelte die Stirn.
„Was ist los?“, fragte sie argwöhnisch und spürte nicht nur ärger, sondern auch Panik in sich aufsteigen.
„Eure Hoheit…“, begann die jüngere von beiden an zu Stammeln und sah hilfesuchend zu ihrer Freundin. Diese wusste auch nicht was sie sagen sollte und schüttelte abwehrend den Kopf. Diejenige, die angefangen hatte zu sprechen, richtete wieder ihren Blick auf Freya und brachte ein ersticktes: „Eure Haare…“ heraus.
Freya packte panisch eine ihrer Locken und griff in die Leere.
Dort wo ihre Haare eigentlich waren, waren sie nicht mehr. Trotzdem hatte sie noch Haare… allerdings um einiges kürzer als sie eigentlich waren.
In Freya setzte ihr Herz kurz einen Schlag aus, doch dann schlug sie die Bettdecke beiseite und sprang leichtfüßig hinaus um vor ihren bodenlangen Wandspiegel zu treten.
Der Anblick ließ ihr Herz verkrampfen und ihr Gesicht erstarrte.
Ihre schulterlangen Locken waren alle weg und an ihrer Stelle hatte sie eine Kurzhaarfrisur mit einzelnen, kleinen, blonden Löckchen. Nicht nur, dass ihre Haare weg waren, sie wurden ihr auch noch völlig unprofessionell abgeschnitten. Ein paar Löckchen waren länger und an einigen Stellen waren ihre Haare gerade einmal drei Zentimeter lang. Sie sah nicht nur aus wie ein Junge, sondern auch noch wie ein hässlicher Junge!
Freyas Erstarrung löste sich und sie brach in Tränen und Geschrei aus.
„Neeeeeiiin! Das darf doch nicht wahr seeeeeiiiin!“, Freya raufte sich ihre Haare und stampfte mit ihren Füßen auf. Ihre Kammerzofen sahen sie ängstlich an und blieben weiterhin in der Türe stehen. So als hätten sie Angst davor sich der kleinen Prinzessin auch nur einen Schritt zu nähern. Irgendwann hatte sich Freya ausgeschrien und dann dämmerte ihr langsam aber sicher, wem sie das zu verdanken hatte.
Mit zornfunkelnden Augen wandte sie ihr tränenüberströmtes, rotes Gesicht zu den Zofen und presste ein wütendes: „Loki!“, hervor.
Schneller als eine der Zofen reagieren konnte, war Freya an ihnen vorbeigerannt und stürmte in ihrem Nachthemd und Barfüßig durch den Palast in Richtung Lokis Schlafzimmer. Doch er war bereits aus dem Bett und nicht mehr in seinem Zimmer. Daher wandte sie sich ab und stürmte in den Speisesaal. Doch, auch wenn die Diener das Frühstück bereits auftischten, war kein Loki in Sichtweite. Freya runzelte die Stirn, aber es gab noch einen Ort an dem sie Loki finden konnte.
Wieder brauste sie durch den Palast und dieses Mal Richtung Bibliothek.
Dort angelangt, rannte sie an den Bücherreihen entlang, bis sie vor den großen Fenstern und den roten Sofas stand. Das war der Ort an dem das beste Licht zum Lesen war. Und tatsächlich, Loki saß auf dem Sofa und hatte seinen Blick in ein Buch gesenkt.
Freya schrie wütend auf und wollte sich auf Loki werfen, doch er schien sie bereits erwartet zu haben. Seine Gestalt verschwand einfach in grünem Licht und das Buch fiel einfach auf das Sofa. Freya griff ins Leere und landete in den weichen Kissen.
Sie rappelte sich verwirrt auf und suchte nach dem eigentlichen Loki. Währenddessen kicherte er bereits hinter ihr.
„Daneben“, stellte er nur genüsslich fest.
Sofort sprang sie vom Sofa wieder auf und wandte sich der Stimme zu. So gut sie konnte, legte sie all ihre Wut und ihren Zorn in ihre Augen und funkelte ihn an.
„Du hast mir meine Haare abgeschnitten!“, schuldigte sie ihn an und trat einen Schritt auf ihn zu.
Loki hatte seine Arme verschränkt und lässig an einer der Bücherreihen gelehnt. Sein Gesicht zierte ein freches grinsen. Doch als Freya einen Schritt auf ihn zu machte, hob er abwehrend seine Hände.
„Ganz ruhig kleine Prinzessin, sie wachsen wieder nach“, meinte er nur und konnte ein leises kichern nicht unterdrücken als er seinen Blick über ihre Frisur wandern ließ.
„Also leugnest du nicht einmal“, meinte Freya und ballte ihre Hand zu einer Faust.
„Wozu?“, fragte Loki unverhohlen triumphierend. „Wozu leugnen wenn ich meine Tat angekündigt habe? Dann wüsste niemand dass ich es war, der dir deine unausstehlichen Locken abgeschnitten hat.“
„Ich werde dir jedes Haar einzeln herausreisen!“, rief Freya und spürte wie wieder eine einzelne Träne die Sicht verschwimmen lies. Doch aus irgendeinem Grund hatte sie einfach keine Kraft mehr. Sie wollte einfach nur noch weinen und daher stürzte sie sich nicht auf ihn, sondern ließ sich auf ihre Knie fallen. Ihr Gesicht verbarg sie in ihren Händen und weinte hemmungslos.
Sie sah nicht was Loki tat und es war ihr auch vollkommen egal.
Der Verlust ihrer Haare war eine Sache, die sie sehr schwer traf. Sie mochte ihre Locken und vor allem sagten ihr auch alle anderen, dass sie wunderschöne Haare hatte. Niemand fand ihre Haare unausstehlich!
Eine Hand strich ihr beruhigend über den Rücken. Es konnte nur Lokis sein, denn sie hörte seine Stimme direkt neben ihrem Ohr.
„Weine nicht kleine Prinzessin“, flüsterte er ihr zu und Freya entspannte sich tatsächlich ein wenig. Sie hob ihr Gesicht an um ihn böse anzusehen.
Er hatte sich in die Hocke begeben und seine linke Hand auf ihrem Rücken ruhen und seine rechte auf ihrem rechten Oberschenkel.
„Ich sehe schrecklich aus“, wimmerte sie und schniefte dabei.
Loki zog ein Taschentuch aus seinem Wams und reicht es ihr. „Tust du nicht. Du siehst anders aus, aber nicht schrecklich“, versuchte er sie zu trösten. Freya sah ihn wieder zornfunkelnd vom Taschentuch auf. „Oh doch, ich sehe schrecklich aus! Sieh dir das doch an!“ Sie griff in ihre Haare und zog an einer Haarsträhne und dann an der nächsten, um ihm zu zeigen wir ungleich lang ihre kurzen Haare waren.
Er blinzelte verwirrt und als ihm klar war, dass sie sich vor allem über ihren Haarschnitt und nicht ihre Haarlänge aufregte, umspielte seinen Mund wieder das altbekannte schmunzeln. „Ach darum geht’s. Das kann ich ändern…“
***Kapitel 11***
Beim Frühstück waren bereits alle versammelt, als schließlich auch Freya dazukam.
Sie trug eine Lederhose und ein eng geschnürtes Wams, damit sie gleich nach dem Frühstück ausreiten gehen konnte. Kaum hatte sie den Speisesaal betreten, waren die Blicke ihrer Familie (außer die von Loki) auf sie gerichtet und Königin Frigga klappte sogar der Mund auf. Im Hintergrund schepperte es plötzlich laut, als einer der Diener einen Teller fallen ließ.
„Guten Morgen“, begrüßte Freya alle anwesenden und setzte sich als erste.
Normalerweise wurde gewartet, bis der Allvater sich gesetzt hatte, aber Freya beschlich das leise Gefühl, dass er zur Salzsäule erstarrt war. Tatsächlich schienen alle erst dann aus ihrer Erstarrung zu erwachen, als Freya ihren Platz bereits eingenommen hatte. Loki tat es ihr einfach gleich und dann endlich ließ sich auch Odin nieder, gefolgt von Thor und Frigga.
„Kind, was hast du nur getan?“, fragte Frigga entsetzt.
„Was denn?“, fragte Freya gespielt unwissend und als sie den Blick ihrer Tante auf ihren kurzen Haaren ruhen sah, lächelte sie kurz. „Ach so, das!“, meinte sie und zupfte an einer ihrer kleinen Löckchen.
„Ich meinte nicht dich mein Schatz, sondern Loki“, stellte Frigga ihre Nichte richtig und richtete ihren strafenden Blick auf Loki.
Freya war verwirrt und Loki spielte den verwirrten. Frigga erklärte sich jedoch bereits.
„Freyas Kammerzofen waren bei mir und haben von dem bösen Erwachen erzählt. Wie konntest du das nur tun Loki?“, fragte sie ihren jüngsten Sohn anklagend. „All ihre schönen Locken sind dahin und das alles nur für einen Streich?“
Loki sagte nichts dazu.
„Er war das gar nicht“, meinte Freya da und fragte sich selbst, warum zum Teufel sie ihn jetzt beschützte. Alle anwesenden waren derselben Frage nachgegangen und richteten ihre verwirrten Gesichter auf die jüngste unter ihnen. Loki eingeschlossen.
Sie stockte und schluckte.
„Ich…. Ich… ich wollte meine Frisur verändern und dann dachte ich, dass eine Kurzhaarfrisur im Kampf weniger störend wäre. Ich musste ja immer einen Pferdeschwanz machen“, begann sie zögerlich und dachte weiter. „Also habe ich gestern Nacht meine Haare abgeschnitten.“
„Und warum hast du heute Morgen so getobt und geschrien?“, fragte ihre Tante nach.
Freya blinzelte und überlegte kurz. „Ich hatte einfach nur meine Haare genommen und abgeschnitten. Ohne in den Spiegel zu sehen. Und heute Morgen habe ich festgestellt, dass es schrecklich aussah“, erklärte sie dann und senkte ihren Blick. Freya war nicht geübt zu lügen und sie spürte wie ihre Wangen rot wurden.
„Und darum läufst du als erstes zu Loki?“, fragte Frigga ungläubig nach.
„Er… er…“, Freya stockte und wusste nicht mehr weiter.
„Sie kam zu mir, damit ich ihr half ihre Haare wieder zu einer richtigen Frisur zu bändigen“, erklärte Loki und sah seine Mutter direkt in die Augen. Obwohl sie ihr bestes versuchte ihn mit Blicken zu ermahnen die Wahrheit zu sagen, wandte er nicht einmal seinen Blick von ihrem.
Im Gegenteil, er breitete seine Arme zu Freya und meinte: „Es sieht doch super aus, oder nicht?“ Freya sah auf und lächelte tapfer in die Runde. Als er seine Arme wieder sinken ließ und sich seinem Müsli zuwandte, meinte er noch leichthin: „Glaubt mir, es sah schrecklich aus als sie zu mir kam. Jetzt ist es tausendmal besser.“
Freya unterdrückte ihren Impuls ihn unter dem Esstisch zu treten.
Frigga war noch nicht ganz überzeugt, aber für Thor war die Sache erledigt und auch Odin schien mit der Erklärung seines jüngsten zufrieden zu sein. Da aber Freya ebenfalls bei dieser Geschichte blieb, ging auch Frigga nicht weiter auf dieses Thema ein.
Nach dem Frühstück klopfte Thor seinem Bruder auf den Rücken.
„Beeil dich Loki, sonst reite ich ohne dich aus“, meinte er dröhnend und rannte Richtung Stallungen davon. Loki runzelte die Stirn und wollte ihm hinterherrennen, als Freya ihn am Arm packte und abhielt.
„Du schuldest mir was“, meinte sie schlicht.
Loki sah auf ihre Hand an seinem Arm hinab und zerrte seinen Arm aus ihrer Umklammerung heraus. „Ich schulde dir gar nichts.“
Freya verschränkte ihre Arme. „Oh doch, tust du! Ich habe dich davor bewahrt keinen Ärger zu bekommen!“
Loki verschränkte seine Arme ebenfalls und baute sich vor ihr auf. „Na und?“
Sie blinzelte verwirrt und während sie ihre Arme wieder sinken ließ, meinte sie drohend: „Ich kann Tante Frigga auch die Wahrheit sagen und dann bekommst du doch noch ärger!“
Loki lachte unbekümmert auf und stemmte dabei sogar seine Arme in seine Hüfte. „Und du glaubst, damit könntest du mich bezwingen?“ Er fing sich wieder und sah seine Cousine mit festem Blick an. „Wenn du Mutter sagst, dass ich dir die Haare abgeschnitten habe, musst du gleichzeitig zugeben gelogen zu haben“, erklärte er langsam und genüsslich. „Und das wäre mindestens genauso schlimm.“
Langsam dämmerte es Freya und sie ließ perplex den Mund offen.
„Nur zu, geh Mutter alles sagen“, forderte er auf und bereitete seinen Arm in Richtung Speisesaal aus. „Vielleicht bekommen wir beide dieselbe Strafe und du kannst bei mir lernen wie man richtig lügt“, bot er ihr scherzend an.
Da sie nicht auf ihn reagierte, sondern nur ihren Mund wieder schloss, ließ er seinen Arm sinken. „Dachte ich es mir doch“, meinte er nur und wandte sich ab von ihr. „Wenn du mich entschuldigen würdest? Ich bin mit Thor verabredet.“
Während Loki sich von ihr entfernte, versuchte Freya ihre Hände wieder zu entkrampfen. Bevor er außer Sichtweite war, rief sie ihm hinterher: „Mistkerl!“
Loki hob einen Arm mit geballter Faust und rief über seine Schulter zurück: „Lügnerin!“, dann war er um die Ecke verschwunden.
***Kapitel 12***
Freya war alleine ausgeritten.
Allerdings machte es keinen Spaß alleine und daher war sie vor ihren Cousins wieder im Palast zurück. Dort angelangt zog sie sich mit dem Buch über den Mökkurkalfi in den Rosengarten des Palasts zurück um ungestört zu lesen.
Doch wie beim ersten Mal als sie das Buch lesen wollte, glitten ihre Gedanken immer wieder davon und lenkten sie von der Geschichte ab.
Dieses Mal ging es um den beunruhigenden Gedanken, dass sie gelogen hatte. Sie hatte noch nie zuvor mit Absicht gelogen und dass sie nun damit angefangen hatte, hinterließ einen bitteren Geschmack in ihrem Mund.
Vor allem da Loki sie zu Recht eine Lügnerin genannt hatte.
Schlimmer noch, sie hatte nicht einmal für sich gelogen sondern ausgerechnet für denjenigen, der ihr das alles im vorneherein angetan hatte!
Natürlich hatte sie angenommen gehabt, dass sie ihn damit irgendwie erpressen konnte, wie er es schon einmal bei ihr getan hatte. Aber er hatte sie schnell durchschaut.
Gedankenverloren griff Freya an die Halskette Brisingamen, die sie wie einen Schatz hütete und den sie nur selten ablegte.
Den Gott des Unheils konnte man nicht erpressen, geschweige denn austricksen.
Sie seufzte und klappte das Buch zusammen.
Sie würde keine Ruhe finden und daher beschloss sie das lesen aufzugeben und eine andere Beschäftigung zu finden.
Auf ihrem Weg nach Hause fragte Thor seinen kleinen Bruder plötzlich: „Du hast ihr die Haare abgeschnitten, oder?“
Loki konnte ein leichtes grinsen kaum unterdrücken, trotzdem sah er Thor überrascht und gekränkt hinterher. „Ich soll ihr die Haare abgeschnitten haben? Warum soll ich das getan haben?“
Thor, der ein wenig vor Loki geritten war, hielt seine weiße Stute an und richtete seinen Blick auf Loki. „Wegen dieser Sache auf dem Trainingsplatz. Das hast du sicher noch immer nicht verwunden. Ich kenne dich Loki, du bist einfach nachtragend“, tadelte er seinen kleinen Bruder.
Auch wenn Thor sein Pferd angehalten hatte, tat es Loki ihm nicht gleich. Er trabte gemächlich mit seinem braunen Hengst an ihm vorbei. „Mach dich nicht lächerlich Thor. Freyas Haare sind in fast allen neun Reichen berühmt für ihre goldene Farbe. Warum sollte ich so etwas tun? Nur wegen meines gekränkten Stolzes?“, meinte Loki leichthin. Hinter ihm hörte er, wie Thor seiner Stute bedeutete weiterzutraben und schon war er an seine Seite geritten.
„Zugegeben, es wäre schon ein starkes Stück“, begann Thor nachdenklich. „Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Freya sich die Haare abschneiden würde.“ Loki legte seinen Kopf schräg und sah seinen Bruder eindringlich an. „Vergiss nicht Thor, sie will Kriegerin werden“, begann Loki und dachte kurz nach, bevor er sich korrigierte: „Göttin des Kriegs werden. Es würde schon passen wenn sie sich die störenden Haare abschneiden würde.“
Sein Bruder dachte nach und schließlich schien er Loki zu glauben. „Ich schätze, du hast Recht. Es würde zu ihr passen.“
Loki wandte sein Gesicht von Thor ab und grinste breit. „Amazone genug wäre sie“, meinte er und versuchte ein kichern zu unterdrücken. Um Thor nicht doch noch die Wahrheit zu verraten indem er in Gelächter ausbrach, meinte er hastig: „Der letzte im Palast ist ein Troll!“ dann gab er seinem Hengst die Sporen.
***Kapitel 13***
Es war mitten in der Nacht, als sich Freya im Bett wälzte. Sie träumte schlecht:
Sie befand sich mitten im nirgendwo. Um sie herum waren nur die Dunkelheit und die Sterne von Yggdrasil, vor ihr tat sich der Grenzenlose Abgrund des Ginnungagap auf. Ein Ort ohne Wiederkehr. In ihrem inneren tobten Grauen und Schmerz, sowie das zerstörerische Gefühl betrogen worden zu sein. Diese Gefühle wurden so stark, dass sie von einer heilenden Leere beiseitegeschoben wurden. Es war als hätte man ihr das Herz aus der Brust gerissen und in den Abgrund geworfen.
Sie hörte wie eine tiefe Männerstimmte hinterherschrie: „Nein!!!“ und obwohl Freya niemanden sehen konnte, hörte sie die Stimme so deutlich als wäre ihr Besitzer direkt neben ihr. Ihr Herz war verloren und zurück blieb nur Freya… eine Hülle ohne Gefühle. Das Grauen und der Schmerz die sie zuvor angefüllt hatten, alles was da zuvor noch gewesen war, wäre erträglicher gewesen als nichts zu spüren. Nie wieder etwas spüren zu können…
Und der Abgrund schien mit einem Mal freundlich zu sein. So als würde er sie aufnehmen wollen. Sie trösten wollen. Vielleicht fand sie auch ihr Herz wieder?
Freya ließ sich einfach fallen…
Und mit einem Schrei wachte sie schweißgebadet in ihrem Bett auf.
Ihr Herz raste und schmerzte als sie stocksteif im Bett saß.
Sie griff sich schwer atmend an ihre Brust und versuchte beruhigend ein- und wieder auszuatmen. Der blanke Horror hielt ihre Gedanken im Griff und einzig der tröstende Gedanke, überhaupt irgendetwas zu fühlen, beruhigte sie etwas.
Ihr Herz war noch an Ort und Stelle und ihre Gefühle waren ebenfalls noch immer vorhanden. Nichts von alledem war Wirklichkeit gewesen.
Freya ließ sich erschöpft in die Kissen zurückfallen, doch als sie die Augen schloss, tat sich der Ginnungagap wieder vor ihr auf.
***Kapitel 14***
Loki lag in seinem Bett und schlief ruhig, doch etwas war plötzlich anders und er erwachte. Schläfrig richtete er sich auf und sah sich mit zusammengekniffenen Augen in seinem Zimmer um. Da es zu dunkel war um etwas sehen zu können, schnipste er mit den Fingern und kleine grüne Flammen erschienen, die in der Luft schwebten und sein Zimmer spärlich aber trotzdem ausreichend erleuchteten.
An seiner leicht geöffneten Zimmertüre stand Freya, in ihrem hellrosa Nachthemd mit den weißen Spitzen an Ärmel und Saum. Die rosa Schleife an ihrem Kragen war gelöst und deutete darauf, dass sie unruhig geschlafen hatte. Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie das blanke Grauen gesehen hatte.
„Was ist?“, fragte Loki weich und rieb sich seine Augen.
Ohne sich von der Türe wegzubewegen flüsterte Freya kaum hörbar: „Ich hatte einen Albtraum….“ Ihre Stimme erstarb und die unausgesprochene Frage ob sie bei ihm schlafen dürfe stand im Raum.
Sie hatte schon sehr oft Albträume gehabt und die meiste Zeit ging es darin um ihren Bruder Freyr, der qualvoll am Gift der Nornen starb, als Freya drei Jahre alt gewesen war. Doch niemals zuvor hatte sie einen solch panischen Gesichtsausdruck.
Ohne ein weiteres Wort zu sagen, hob Loki seine Bettdecke an und bedeutete ihr damit, dass sie bei ihm schlafen durfte.
Freya verstand den Wink sofort, schloss die große Türe so leise sie konnte und schlich vorsichtig aber trotzdem so schnell sie konnte zu ihm. Sie sprang auf sein Bett und kuschelte sich unter die Bettdecke und nah an ihren Cousin. So wie sie es immer tat wenn sie schlecht geschlafen hatte.
Loki lächelte liebevoll und bedeckte sie mit der Bettdecke. Dann legte auch er sich wieder hin und zwar so, dass sie sich gegenüberlagen.
„Willst du reden?“, fragte er leise und strich ihr eine ihrer Löckchen aus dem Gesichtsfeld. Freya öffnete ihren Mund und wollte etwas sagen, aber die Erinnerung an das eben gesehene brachte all die schrecklichen Gefühlszustände mit sich und sie schloss den Mund hastig wieder.
Er bemerkte ihre Angst und lächelte aufmunternd. Mit einem Arm um sie gelegt, zog er sie zu sich her, damit sie ihr Gesicht an seine Brust legen konnte. „Schon gut“, murmelte er in ihre kurzen Haare und atmete den berauschenden Duft ein. „Ich bin bei dir, alles ist gut.“
Freya vergrub ihr Gesicht in Lokis Brust und hörte nicht nur seine leise Stimme sondern spürte auch wie sein Brustkorb vibrierte. Die Angst die sie verspürte war sofort weg und der schlaf konnte sie wieder umhüllen. Kaum hatte sie daran Gedacht, war sie bereits eingeschlafen.
Ihr Atmen wurde gleichmäßiger und Loki löste sich gerade soweit von ihr, um ihr ins Gesicht sehen zu können.
Ihre grünen, angsterfüllten Augen waren geschlossen und sahen entspannt aus. Ein leichtes lächeln lag auf ihren vollen Lippen.
Mit einem Zeigefinger strich er ihr liebevoll über ihre rosa Wange und tippte dann zum Abschluss auf ihre kleine Stupsnase.
Er hatte ihr die Haare abgeschnitten weil er sich sicher war, dass sie ihn damit immer verzauberte. Doch jetzt, wo sie in seinen Armen lag und ihm damit ihr vertrauen schenkte, wusste er, dass es nicht ihre Haare gewesen waren oder irgendetwas anders an ihrem Aussehen. Es war von Anfang an Freya selbst gewesen, die ihn immer wieder um die Finger wickeln konnte.
Ihre Art wenn sie sich über ihn aufregte, wie sie sich über etwas freuen konnte, wie sie weinte und wie sie Angst vor etwas hatte berührte sein Herz.
Sie war die einzige die er gerne ärgerte, einfach um zu sehen wie sie darauf reagierte.
Sie war die einzige die sein Herz zum Hüpfen brachte, wenn sie glücklich war.
Sie war die einzige, bei der er seine Streiche bereute, wenn sie in Tränen ausbrach.
Sie war die einzige, deren Angst er ernst nahm und sich nicht darüber lustig machen konnte.
Was ihn aber immer wieder am meisten an ihr faszinierte war ihre unendliche Kraft zu vergeben. Erst letzte Nacht hatte er ihr ihre geliebten Haare abgeschnitten und ihren Versuch ihn zu erpressen ins Leere laufen lassen und jetzt lag sie bei ihm in seinem Bett und hatte ihm all das schon längst vergeben.
Loki runzelte die Stirn.
Thor hatte recht damit, als er gesagt hatte, dass er nachtragend war.
Er hatte die Haare von Freya nicht nur abgeschnitten um ihre Macht über ihn einzudämmen (was überhaupt nicht funktioniert hatte) sondern auch und vor allem, um sich für die Demütigung auf dem Trainigsparcours zu revanchieren.
Während er Wochenlang nur an die Schmach dachte, die ihm seine Cousine eingebracht hatte, hatte sie ihm hingegen innerhalb eines Tages verziehen.
Er konnte nicht anders als zu lächeln.
Sie waren so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Alles was er nicht war, war sie und alles was sie nicht war, war er. Und aus diesem Grund gehörten sie beide zusammen. Sie machte ihn vollkommen.
Loki legte sich wieder hin und rutschte soweit unter die Bettdecke, dass er auf selber Höhe wie seine Cousine lag. Dabei kam er ihrem Gesicht so nahe, dass seine Nase leicht die ihre berührte. Mit einem letzten Stups gegen ihre Nase wünschte er ihr eine gute Nacht und schloss selbst seine Augen.
***Epilog***
Das lächeln in Lokis Gesicht wurde nur umso breiter als er daran dachte, was er vor 15 Jahren in genau diesem Bett über seine Cousine gedacht hatte.
Das Mädchen, das ihn vollkommen machte.
Sanft strich er ihr mit seiner rechten Hand über ihren nackten Rücken und spielte mit seiner anderen Hand mit einer ihrer Locken.
Wenn er könnte, würde er die Zeit anhalten, damit dieser Augenblick niemals verging.
Doch er konnte es nicht und er ahnte bereits, dass Freya sich viel mehr Sorgen um die letzte Nacht machen würde als er. Das wusste er, weil er sie nicht bereute und da sie sein Gegenstück war, würde sie mit Sicherheit Panik bekommen, sobald sie erwachte.
Bevor sie erwachen konnte und dieser magische Moment verstreichen würde, flüsterte er sachte: „Ich liebe dich Freya, meine kleine Prinzessin.“
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